Unfertige Gedanken und Fragen –
Am 23. November 2022Leben oder gelebt werden…
Renate Karnstein, Waldbröl:
In unserer Tageszeitung erscheint täglich eine Karikatur aus dem Leben Hägars des Schrecklichen und seiner Ehefrau Helga. Mein Mann und ich finden die beiden so großartig, dass sie unsere Einladung zur Silberhochzeit zierten. Vielleicht ist dieses Wikingerpaar auch der einen oder anderen von euch vertraut. Jedenfalls starteten die beiden ins neue Jahr mit folgendem Dialog:
Helga: „Dieses Buch ist so langweilig, dass es mir Tränen in die Augen treibt.“
Hägar: „“Du brauchst ein anderes Buch!“
Helga: „Ich brauche ein anderes Leben… Das hier ist nämlich mein Tagebuch!“
Leben oder gelebt werden…
Ich denke, in unserem Leben gibt es immer wieder Zeiten, in denen wir ins Fragen kommen, Selbstverständliches und Gewohntes plötzlich ins Wanken gerät. Damit einhergehend höre ich oft und habe es auch selbst gesagt: „Ich möchte leben, nicht gelebt werden.“
Eine Ordensfrau prägte den Satz: „Wenn du vor einer Entscheidung stehst und nicht weißt, wie du dich entscheiden sollst, dann entscheide dich für das, was dich lebendiger macht.“ Ein interessantes Kriterium! Andrea Schwarz, deren Bücher mir viel geben, formuliert das so: „Lebendiger – das heißt nicht unbedingt: einfacher, glücklicher, leichter, angenehmer. Das heißt, sich dem Leben zu stellen, sich durchaus auch herausfordern lassen, Neues zu wagen und zu probieren, sich von Altem zu verabschieden. (…) Lebendig – da tut sich was, da tut mir was gut, da kann ich wachsen, mich weiter entwickeln. Da mach ich mich auf den Weg, da bin ich bereit aufzubrechen, da komm ich ins Fragen und Suchen.“ (in: Und jeden Tag mehr leben, S. 272)
Wer bin ich ohne meine „Funktionen“?
Wer bin ich, wenn ich nicht als Pfarrfrau, Ehefrau, Tochter, Mutter, Oma, Berufstätige, Freundin, Ehrenamtliche handle bzw. „funktioniere“? Was bleibt von mir übrig, wenn Maßgebliches, was meinen Alltag normalerweise bestimmt, abgestreift wird? Wie stark definiere ich mich über meine Aufgaben? Und was passiert, wenn ich Tätigkeiten und Ämter loslasse, den Ruhestand in den Blick nehme oder auf manchen Gebieten nicht mehr gebraucht werde? Fragen, die sich mir je nach Lebensphase immer wieder neu stellen. In meiner augenblicklichen auch, weil ich zunehmend an Grenzen stoße und manches nicht mehr so einfach wegstecke und merke, wie mein Selbstwert an meine Leistung gekoppelt ist. Dabei weiß ich doch, dass Gott mich voraussetzungslos liebt. So einfach und doch so schwer… Wer bin ich ohne meine „Funktionen“? – Eine anspruchsvolle Frage, auf die es keine schnellen Antworten gibt. Abschied von den Kindern – und das war´s? – Abschied vom Leben im Pfarrhaus – und das war´s? Abschied von einem Partner – und das war´s? Ende einer Freundschaft, einer Beziehung – und das war´s? Abschied von meinen Idealen, wie mein Leben sein sollte – und das war´s? Abschied von meinen Idealen von mir selbst – und das war´s?
Neue Räume entdecken
Nein, das war´s nicht! Abschiede, Umbrüche und damit einhergehende Falten und graue Haare bedeuten nicht: alles vorbei! Auch wenn ich zu einer meiner Töchter schon gesagt habe: „Manchmal habe ich Angst, das Beste liegt bereits hinter mir…“ So wenig unsere Kinder auf immer im eigens für sie gestalteten Kinderzimmer bleiben wollen, so muss auch ich nicht auf immer im gleichen Raum gut aufgehoben sein und mich darin wohl fühlen. Aus manchem werde ich vielleicht sogar unsanft und unfreiwillig verdrängt. Zeit, neue Räume zu entdecken. Ich bin sehr dankbar, dass mir dabei andere Menschen geholfen haben, mich auf Türen aufmerksam gemacht, mich ermutigt haben: „Probier´s doch einfach und steige in diese oder jene Aufgabe ein. Ich kann mir gut vorstellen, dass das zu dir passt.“ Wenn ich mich recht erinnere, habe ich nie spontan „nein“ gesagt. Einfach auch aus dem Grund, dass ich Gott immer wieder bitte, dass er mir zeigt, wo er mich haben möchte, und ich offen sein will für neue Räume, in die er mich führt. Ich habe aber auch nie spontan „ja“ gesagt, sondern erst nach reiflicher Prüfung im Gebet und im Gespräch mit Vertrauten.
Ich wünsche uns aufmerksame Menschen und wache Vertraute, die uns begleiten und ermutigen, Entscheidungen zu treffen, Schritte zu wagen, neue Räume zu betreten. Und dass wir entdecken, wo wir solche Menschen für andere sein können.
Ich kann doch nur beten…
Vor einiger Zeit führte ich ein mich sehr bewegendes Telefonat mit einer 85Jährigen. Ich merkte ihr an, dass sie bekümmert war, schlecht geschlafen hatte und fragte sie einfach, was sie denn am Vortag gemacht hätte. Ja, abends wäre sie in ihrem Frauenkreis gewesen. Sie sei da mit Abstand die Älteste. Eine vor Energie und Temperament strotzende 75jährige Diakonisse habe berichtet, was sie noch so alles allein stemme. Vorsichtig wandte ich ein: die ist schließlich 10 Jahre jünger! Dann meinte meine Gesprächspartnerin: „Es war ja auch ganz lustig und ich habe oft auch mitgelacht. Aber innendrin dachte ich: ich bin inzwischen recht eingeschränkt und auf Hilfe angewiesen. Die Diakonisse sagte dann zwar, wir sollten uns nicht mit anderen vergleichen, da ja jede ihre ganz besonderen Gaben hat. Und dann war´s erst recht schlimm für mich: Was hab´ ich denn für Gaben? Ich kann doch nur beten. Was anderes fiel mir nicht ein…“ Abgesehen davon, dass das eine großartige und sehr wichtige Gabe ist, hat mich ihre Antwort doch erschüttert. –
In der Tat kann es mit zunehmendem Alter mühsamer werden, neue Perspektiven zu entdecken. Viele Umbruchsituationen hat meine Gesprächspartnerin schon gestemmt, hat sich Herausforderungen gestellt, die sie sich vorher nie zugetraut hätte. Ich wünsche ihr, dass sie dankbar darauf zurückschauen kann und sie ihr „Ich kann doch nur noch beten“ – umwandelt in: „Ich kann beten und tu das in großer Treue und bleibe so in Verbindung mit Gott und vielen Menschen und Aktionen, die mir am Herzen liegen.“
Bei allem Nachdenken über uns selbst, dürfen wir mit David beten:
HERR, du erforschest mich und kennest mich.
Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es;
du verstehst meine Gedanken von ferne.
Ich gehe oder liege, so bist du um mich
und siehst alle meine Wege.
Von allen Seiten umgibst du mich
und hältst deine Hand über mir.
Diese Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch, ich kann sie nicht begreifen.
Deine Augen sahen mich,
da ich noch nicht bereitet war,
und alle Tage waren in dein Buch geschrieben,
die noch werden sollten
und von denen keiner da war.
Aber wie schwer sind für mich, Gott, deine Gedanken! Wie ist ihre Summe so groß!
Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz;
prüfe mich und erkenne, wie ich’s meine.
Und sieh, ob ich auf bösem Wege bin,
und leite mich auf ewigem Wege.
(Psalm 139 in Auszügen) Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.